Stephan Hallmann - Photographien
So viele Länder haben traumhafte Landschaften, große Geschichte, Kultur und Architektur. Aber keines liegt uns so nah wie Italien. Dabei denke ich nicht nur an die Entfernung.
Es gibt auf der Welt Orte, die nicht weniger einzigartig oder spektakulär, sind. Machu Picchu, die sagenhafte Inkastadt hoch in den Anden, die birmesische Königsstadt Bagan mit ihren Tausenden von Tempeln oder Palmyra, Knoten-punkt bedeutender alter Karawanenstrassen mitten in der Wüste Syriens. Aber das sind leblose Ruinen, grossartige Zeugnisse einer fernen Vergangenheit.
Italien mit all seinen antiken Sehenswürdigkeiten und Kostbarkeiten ist leben-dig, bis in hinein in seine antiken Arenen, die immer noch genutzt werden. Keine exotische Oase oder Ansammlung alter Mauern, die allein dem Touris-mus dienen. Die alten Mauern Italiens sind große Geschichte - voller Leben.
Einst Republik, Weltmacht und Handelsmetropole auf Holzpfählen in einer Lagune. Die Stadt wurde zu einem Synonym, nicht für ihren einstigen Reichtum, aber für das Wasser, das ihre Fundamente umspült. Wo immer eine Gegend auf der Welt reich, friedlich und schön ist, bekommt sie das Adels-prädikat „Schweiz des …“. Wenn aber Wasser in Strömen fliesst, Kanäle den Ort durchziehen, über-spannt von Brücken, dann ist dies ein „Venedig des....". Venedig selbst ist viel mehr. Eine richtige Stadt, auch wenn das normale bürgerliche Leben immer mehr zugunsten des Tourismusgeschäfts aus der Stadt gedrängt wird. Nicht nur die prächtigen Paläste sind sehenswert. Neben schrecklichen Andenkenläden gibt es moderne, edel und äusserst originell gestaltete Schaufenster. Die Friedhofs-insel in der Lagune von Venedig ist sehenswert, und die Insel, von der das berühmte venezianische Glas stammt: Murano.
Ich liebe das Wasser nicht nur als Kulisse. Ich muss es anfassen können, vielleicht sogar trinken, hinein-springen, darin baden, mindestens aber darauf se-geln. Die Berührung mit Wasser ist mir Reinigungs- und Wohlfühlritual in einem. In Venedig ist es an-ders - schmutzig von der Stadt, die es umspült. In Venedig käme ich nie auf die Idee, ins Wasser sprin-gen zu wollen. Es ist der einzige Ort, an dem ich mich zufriedengebe, am Wasser zu sein, ohne in es abzutauchen. Mich mit Fähren auf ihm zu bewegen, dem Fluidum, das eine der fazinierendsten Städte der Welt umgibt. Ich möchte ihr nicht unter den Rock schauen, der "Serenissima", der Heiteren, der Gelassenen. Möchte nicht wissen, wie es um die Hunderttausende uralter Holzpfähle da unten im Schlick der Lagune bestellt ist, auf der die Traum-stadt thront.
Franz Zéphirin, Die Geister des Kolonialismus, 1988
Da unten müssen Geister hausen. Die Seelen und Dämonen der Weltgeschichte, in der diese Stadt lange eine herausragende Rolle gespielt hat. Ich muss dabei an ein Bild des haitianischen Malers Frantz Zéphirin denken, das mich seit Beginn der 90’er Jahre begleitet, als meine Frau und ich es bei einer unserer vielen Reisen auf die Karibikinsel er-worben haben. Es zeigt die Unterwelt des Meeres. Voller Schlingpflanzen und Gespenster aus einer blutigen Vergangenheit. Die Seelen der spanischen Konquistadoren treiben sich da immer noch herum als blasse submarine Zombies. Ähnlich muss es unter der heiteren Oberfläche Venedigs aussehen. Unter dem Markusplatz, dem Dogenpalast, der Fahrrinne des Canale Grande, seinen unzähligen Nebenarmen, die die Stadt durchziehen, und den Tausenden von Pfählen auf denen Venedig ruht.
Doch Italien und seine beiden einzigartigen Traumstädte Rom und Venedig laufen Gefahr, sich mehr und mehr zu einer Disney World zu entwickeln. In den historischen Stadtzentren, vor allem in Venedig, verschwinden die normalen Geschäfte zu Gunsten von billigen Andenkenläden und teuren Boutiquen für Durchreisende. Wohnraum wird in beängstigendem Ausmass zu lukrativen "Airbnb"-Wohnungen für Touristen umgewandelt, "Römer" und "Venezianer" der unteren und mittleren Einkommensklassen durch horrende Mieten raus in die Peripherie der Städte gedrängt.
Ein kurzer Abstecher nach Sizilien: 2017, um dort einen Film, wie könnte es anders sein, über das Erbe der Mafia zu drehen. Genau 25 Jahre sind vergangen seit den brutalen Morden der Cosa Nostra an den beiden Untersuchungsrichtern und Mafia-Jägern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino, die selbst die an Mafia-Gewalt gewohnten Italiener entsetzten und zu einer schärferen Gangart gegen das organsierte Verbrechen in Sizilien führten. Für mich ist es ein Wiedersehen mit Palermos damaligem Bürgermeister Leoluca Orlando, den ich vor 30 Jahren als junger Reporter interviewen durfte.
Orlando spielte eine wichtige Rolle im Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Palermo ist heute eine andere Stadt, auch dank seiner. Nach den Jahren der Gewaltherrschaft und der Zerstörung der historischen Altstadt durch kriminelle Bauprojekte ist aus der einst geschmähten "sizilianischen Braut" Italiens eine Stadt geworden, die versucht, wieder lebenswert zu werden für ihre Bürger.
© Stephan Hallmann